ANDERS - ARTIG  INSTITUT            
für lösungsorientierte Arbeit mit Kindern, Jugendlichen & Erwachsenen

AndersArtig-Blog

Flo schreibt schon seit ein paar Jahren. Dies und das, aus seiner Zeit als pädagogische Fachkraft, über Schule, (Nicht)Erziehung, Partnerschaft, über sich und sein Heilen von der alten Autorität. Manchmal auch über das Mann und Vater sein, in einer Welt, die dringend präsente Väter braucht, aber selten auf gelungen Rollenvorbilder zurückgreifen kann. Bis jetzt nur auf Facebook, gibt es die Texte nun auch hier! :-)


07/02/2022

“So, und Du kommst jetzt auf Rot!”

Du wirst zu mir “gebracht”, grob, roh. Du wirkst wahnsinnig traurig, du kannst die Wut, die in dir aufsteigt, nicht zurückhalten. Tausend dicke Klöße machen dir das Schlucken schwer… ich sehe es… Und es ist ok hier bei mir! Du darfst bitte zeigen, was du fühlst. 

Du wirst flankiert von einer handvoll anderer Kinder, sie sagen schon “was los war”. “Er ist mal wieder auf Rot gekommen!” …. laut… für alle hörbar… und dann platzt es aus dir heraus. Du fühlst dich so ungerecht behandelt, missverstanden, ausgegrenzt und hilflos gegen so viel falsche aber mächtige Zuschreibungen. 

Du weinst, du bist aufgelöst und du weißt, dass der Tag so nur schlimmer werden wird. Wenn erst Mama und Papa hören, und in deinem Notizheft lesen (denn dort steht es schwarz auf weiß), dass du wieder auf Rot gekommen bist…
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Nur eins gerade: Ja, ich verstehe. Liebe:r Kolleg:in, ja, du möchtest ungestört Unterricht machen können. Die anderen Kinder haben ja auch ein Recht auf Unterricht! Und überhaupt, so bekommen die Kinder ja auch ein Gefühl für ihre eigene Verantwortung. Und und und visuelle Rückmeldungen sind doch super! Äh… ja und nein. Was hier unter dem Deckmantel eines sauberen Tools zur Steuerung des Unterrichts genutzt wird, ist nicht mehr ok. Und darüber muss gesprochen werden. Der Zweck darf heute nicht mehr jedes Mittel heiligen. So “attraktiv” es ist, so “gut” es auch funktioniert. (Ob es das in dem Fall überhaupt tut, sei mal dahingestellt, mein Erfahrungsanteil hat große Zweifel daran.)

Sogenannte Verhaltensampeln, so führt der Fachhandel sie, oder auch Sonne/Wolkensysteme hängen mittlerweile in fast jedem Klassenzimmer und beeinflussen massiv das Klima. Wer stört, wird vor allen und für alle sichtbar auf Rot gesetzt. Zunächst wird es angekündigt oder immer wieder als Druckpunkt genutzt. “Wenn du nicht…. dann! Oder willst du wieder…?” Es sind solche Sätze, die uns immer wieder sehr angesprochen haben, hängengeblieben sind. Was passiert hier eigentlich, wenn wir dann die näheren Kontexte des kindlichen Verhaltens kennen…. wenn wir an die Menschenrechte, und an die Kinderrechte im speziellen denken? Ich glaube, es finden allein mit diesem Werkzeug täglich zigtausende Verletzungen dieser Rechte statt. Verhaltensampeln werden genutzt, um dem Kind Angst zu machen und sie verletzten die Würde des (Menschen)Kindes auf verschiedene Weise. Und sie geben eine Stimmung und Haltung vor, die ich sehr kritisch betrachten möchte.

1. Es ist offensichtlich eine Art Pranger. Deine Bewertung ist für alle sichtbar und weil Schulen öffentliche Einrichtungen sind, kann im Grunde jeder deine Beurteilung sehen. Andere Lehrpersonen, Pädagogen, andere Eltern… Prominent an der Tafel prangt es für alle gut sichtbar. (Wir haben da allein schon datenschutzrechtliche Bedenken.)

2. Lärm - oder Verhaltensampeln begünstigen Mobbing. Waaas??? Wow… Moooment! Ne, Ja. Wenn sie kontextuell nicht sogar so eingesetzt werden. Das heißt, die Lehrkraft “spielt” auch mit dem Druck und dem Effekt der anderen. Es ist eine harte These und ein hartes Wort, aber ich möchte mich trauen, es nicht mehr zu verharmlosen. Es ist fast ein wenig absurd, wie oft wir im Laufe der Zeit erleben konnten, wie einem Kind von der Mehrheit der Anwesenden die Schuld für etwas gegeben wurde, und das entsprechende Kind war gar nicht da zu der Zeit. Und in Vertretungsstunden wird der neuen Lehrperson der Klasse schon mal von den Kindern gesagt, wer hier der oder die Schlimmste und “sowieso immer auf Rot ist”. In Wirklichkeit ist das sehr traurig.

3. Aber die Kinder lernen über diese Rückmeldung auch Empathie! Puh…. das halte ich für sehr gewagt. Zuschreibung von außen, die Kommunikation über diese Lärmampeln oder Wolkensysteme… es wirkt auf mich fast schon befremdlich, daran zu denken, dass auch nur ein Kind in diesem Zusammenhang lernt oder erfährt, was Empathie ist. Dazu haben wir viel zu oft erlebt, wie Kinder unter ihren negativen Emotionen und Zuschreibungen schmelzen und sich nicht gesehen und ungerecht behandelt fühlen. Im Grunde ist es psychische Gewalt, und Kinder haben ein Recht auf Gewaltfreiheit und körperliche wie seelische Unversehrtheit.

4. Stell es dir für dich selbst vor! In der Erwachsenenwelt sind solche Instrumente verboten. In keinem Büro der Welt hängt so etwas. Du würdest es nicht wollen, allein “MitarbeiterIn des Monats” ist schon fragwürdig. Würdest du dann tolerieren, als UnmitarbeiterIn des Tages zu gelten und für dein (seien wir mal ehrlich?) manchmal “schlechtes Benehmen” in Schulkonferenzen an die Tafel zu kommen und Kinder, Eltern und KollegInnen können es sehen?

5. Aber aber… es ist ein großer Unterschied, es sind ja Kinder und wir die Erwachsenen, und die dürfen nicht so zu uns sein und und und wir dürfen und müssen sie auch erziehen! Zu der Respektsgeschichte habe ich vor ein paar Wochen etwas geschrieben. Der Rest ist Adultismus und das nehme ich sehr ernst. Ich lehne ab anzunehmen, dass ich mit einem Kind weniger respektvoll, umsichtig, freundschaftlich sein darf, bloß weil es mir nicht “gefährlich” werden kann. Dass es auch mir passiert, ok. Ich bin auch noch (so) erzogen worden. Aber ich möchte es nicht und sehe keinen rationalen Grund dafür.

6. Es ist uns schleierhaft, wie solcherart Bedenken im Sinne eines imaginären gemeinsamen Stranges, an dem auch man selbst zu ziehen hat, weggewischt werden. In Konferenzen werden diese Dinge dann beschlossen und in gewisser Weise werden Lehrerzimmer und Klassenräume so zu rechtsfreien Räumen. Denn das Hausrecht und die Schulordnung können mächtig sein, und es ist verdammt schwer, sich gegen diese Strukturen zu positionieren. Aber, vieles ist eine Praxis, die rein rechtlich schon sehr fragwürdig ist, vom moralischen Punkt abgesehen.

Puh… ok… und jetzt? Ich glaube, dass der Bedeutung der Existenz dieser Systeme nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich glaube aber auch, dass es immer sinnvoll ist, hinzuschauen. Deshalb weiß ich, dass es genug Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte gibt, die dabei ebenso Bauchweh haben wie ich. Dass sie sich oft genug gedrängt und hilflos fühlen. Dass der Unterricht zu funktionieren hat oder dass einem die KollegInnen oder Schulleitungen unterstellen, zu weich und zu inkonsequent zu sein, weil die Klasse ja auf den Tischen tanzt. Und es gibt einen Mangel in den Menschen, der zu würdigen ist. Das alles soll gewürdigt und gewertschätzt werden. In Coachings oder Fortbildungen, in Beratung oder auch in einer Therapie, denn Du bist es wert! Und dann wirst du auch nicht mehr darauf angewiesen sein, etwas zu benutzen, was das tatsächlich eigentlich gar nicht ok ist. Denn das ist eben nicht. Trotz deiner eigenen guten Gründe für dein sein, um die du dich gut kümmern solltest.

Ja aber… wir haben doch auch ein echtes Problem, sonst würden wir ja nicht zu solchen Mitteln greifen! Und da kann ich nicht widersprechen. Ich sehe die Herausforderungen und ich sehe, dass in der Kommunikation an Schulen dringend etwas passieren muss. Ja! Und….

Ich habe vor einiger Zeit schonmal überlegt, was man denn nun mit diesen ganzen Systemen macht, die überall in den Klassenräumen hängen, und ich hatte dazu folgende Idee:
Je nach System, Ampel oder Sonne/Wolken/Blitz und Donner, sind die Kinder eingeladen(!), sich morgens ihrem inneren Gefühl entsprechend ihre Klammern zu setzen. Die Lehrpersonen bekommen natürlich auch eine! Wie geht es mir heute? Rot könnte dann zum Beispiel bedeuten “Sprich mich bitte erstmal nicht an.” (Hier ist der Lehrer seiner Rolle entsprechend ein bisschen raus, aber er darf natürlich trotzdem sagen, warum es ihm nicht gut geht. ) Gelb könnte heißen “Mir geht es eher so la la” und Grün “Ich bin gut drauf!”. Möchte jemand darüber reden? Die Lehrperson kann hier unabhängig von ihrer Gefühlslage ein großartiges Modell sein! Sich zeigen und dabei bei sich bleiben. Vielleicht ergeben sich daraus tolle Momente des Wachsens nicht nur für sich selbst, wenn ein Kind im Laufe des Tages ein Sonnengefühl entwickelt und erzählen kann, wer oder was ihm dabei geholfen hat? Vielleicht bessert sich seine Stimmung nicht, aber es darf die Erfahrung machen, darin gesehen und akzeptiert zu werden?
Denkbar wäre auch, es vielleicht wochenweise als kleines Projekt zu machen. Und danach schaut man mal mit den Kindern zusammen, wie es gewirkt haben könnte? Ich stelle es mir schön vor, mit einem Kind, was sich vielleicht wundert, warum ein anderes Kind heute nicht mitspielt, mal zu schauen, wie sich dieses andere Kind heute so fühlt. Vielleicht hat es ja einen “Wolkentag” oder sogar einen “Gewittertag”? Möchte es dann vielleicht erzählen, oder eine Aufmunterung oder einfach allein sein? Wichtig allerdings, und das braucht tatsächlich Übung für unsere Generation von Erwachsenen; Das, was die Kinder zu ihren Gefühlen sagen, sollte einfach akzeptieren werden. Viele Erwachsene (meiner selbst immer noch manchmal inklusive ) neigen gerne noch dazu, selbst die Gefühlslagen von Kindern zu korrigieren. “Das ist doch jetzt kein Grund….” Doch, vielleicht schon. Und vielleicht passiert es sogar, dass so tatsächlich Empathie gelebt und erfahren werden kann.

Aber Corona! Es sind gerade andere Dinge wichtig!
Ja, es sind verdammt viele Dinge gerade wichtig und deswegen sehen wir, dass etwas anderes zu kurz zu kommen droht. Nämlich eine Auseinandersetzung auch mit diesen Themen. Und ich glaube, dass es die Kinder sind, die gerade eigentlich mit den “besten Job” von allen machen. Vielleicht können wir ihnen so ja etwas zurückgeben?

AndersArtig-Flo

Admin - 19:09:00 @ Allgemein