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für lösungsorientierte Arbeit mit Kindern, Jugendlichen & Erwachsenen

AndersArtig-Blog

Flo schreibt schon seit ein paar Jahren. Dies und das, aus seiner Zeit als pädagogische Fachkraft, über Schule, (Nicht)Erziehung, Partnerschaft, über sich und sein Heilen von der alten Autorität. Manchmal auch über das Mann und Vater sein, in einer Welt, die dringend präsente Väter braucht, aber selten auf gelungen Rollenvorbilder zurückgreifen kann. Bis jetzt nur auf Facebook, gibt es die Texte nun auch hier! :-)


10/27/2022

“Du darfst jetzt aber nicht so nett mit ihr reden!”

“Du darfst jetzt aber nicht so nett mit ihr reden!”

Sie… das bist du, vielleicht 9 Jahre alt, du sitzt draußen auf dem Schulhof, auf einem großen Stein. Deinen Kopf hast du gesenkt und in deinen verschränkten Armen vergraben. Nur kurz hebst du den Kopf als du siehst, dass ich komme. Du bist nicht wütend auf mich, das weiß ich, aber du bist eben wütend und möchtest nicht, dass ich dich anspreche und die üblichen Fragen stelle. Du siehst mich und dein Körper wendet mir seinen Rücken zu…. ich verstehe. Es ist ok. Ich weiß, dass wir später noch kontakten werden. Ich gehe erstmal rein.

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“Du darfst jetzt aber nicht so nett mit ihr reden!” …. Ich werde diesen Satz lange nicht los und tatsächlich begegnete mir dieses “Phänomen” noch öfter im Laufe der Jahre. Besonders in neuen Klassen oder Gruppen habe ich oft das Bedürfnis in den PädagogInnen/LerherInnen gespürt, mir möglichst viel über dieses oder jene Kind zu erzählen. Und ich komme immer wieder in die Situation, dass ein*e KollegIn in einen Konflikt mit einem Kind gerät, in dem ich dem Erwachsenen den Rücken stärken und zur Seite springen soll, oder auch eben jetzt nicht so nett zu dem Kind sein darf. Ich frage mich immer wieder, warum, sehe immer schon die Verantwortung für die Qualität einer Beziehung zu jemandem als autonomen Teil von mir und dem anderen. Warum spielt die vielleicht schlechte Qualität einer Beziehung, die das Kind zu jemand anderem hat, eine so große Rolle dabei, wie ich zu ihm sein “darf”? (Ich habe ein paar Vermutungen…) “Wenn es “frech” zu jemandem war, dann musst auch Du das Kind verurteilen! Die Autorität der KollegInnen ist in Gefahr! Und und und… es darf sich nicht alles erlauben!” Ich sehe alte Kränkungen und ungestillte Bedürfnisse… das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden, sitzt noch heute verdammt tief.

Versuche, auch bei den Erwachsenen etwas tiefer zu schauen, werden noch zu oft weggelächelt. Sie berühren zu sehr die alten Traumata. Die Idee, dass der Erwachsene seine Unfehlbarkeit vor dem Kind zu bewahren hat, ist leider noch zu weit verbreitet. Und die Schutzmechanismen der Erwachsenen sind stark und mächtig. Die Idee, dass das Kind den Erwachsenen kränken kann, ist stark präsent, umgekehrt wird damit argumentiert, dass der Erwachsene ja auch oft genug keine Wahl hat. Gerechtfertigt wird Gewalt oft mit einem anscheinenden Mehr an Verantwortung und einer (selbst zugeschriebenen?) Alternativlosigkiet. Und so wurden auch wir erzogen. Sätze wie “Ich möchte ja wirklich nicht schimpfen, aber…” zeigen ganz klar, wer aus Sicht vieler Erwachsener in der Bringepflicht ist. Zusätzlich passieren im Fahrwasser solcher Aussagen im Kind noch so viele Dinge mehr. Und ich höre sie heute wie früher. Dass unsere Eltern sich dabei schon “falsch” gefühlt haben, nehme ich immer mehr war. Und wie stark diese Dinge wirken, erfahre ich am eigenen Leib, heute als selbst erwachsene-r Bindungsperson/Elternteil, wenn auch ich heutzutage “nicht aus meiner Haut kann” und mich dabei eigentlich für sooo reflektiert halte… Ja ja…

Deshalb möchte ich dem mit Wertschätzung begegnen. Denn ich sehe das verletzte Kind auch in dir. Ich sehe, dass du gerade hilflos bist, Unterstützung brauchst, dass deine eigenen Integrität in Gefahr ist. Ich sehe das. Aber um echt hilfreich sein zu können, werde ich mich nicht auf “eine Seite schlagen”. Wenn du dich traust, deinem inneren Kind tatsächlich eine Stimme zu geben und dir andersrum deiner bewussten Entscheidung, jetzt hier vor Ort zu sein, klar wirst, dann nehme ich euch beide in den Arm.

Denn das ist es, von dem ich glaube, dass es zur echten Veränderung nötig ist: Kontakt zu deinem inneren Kind, Bewusstheit über deine Wunden und Klarheit darüber, wann sie sprechen, oder wann vielleicht sogar nochmal andere in dir sprechen. Dann glaube ich, dass keine großen weiteren Konzepte nötig sind, dann gibt es auch kein richtig oder falsch. Dann gibt es nur ein “echt”. Und dieses wirklich Echte ist das, was unsere Kinder brauchen. Nicht das ausgeleiherte und nur dem Erwachsenen dienende “authentisch” sein. Damit rechtfertigen wir uns nur, wenn wir “drüber” sind, aber wir schauen dann nicht darunter. Und… Wo wäre da auch die Möglichkeit für das Kind, authentisch zu sein? (Wann ist ein Kind denn dann authentisch und wird dafür noch gewertschätzt?)

Was ich sagen will… Ja, verdammt, wir sind die Erwachsenen und in Konflikten mit Kindern müssen(!) wir es schaffen, unsere Projektionen unter Kontrolle zu bekommen. Ich denke im Fall von Beruf und Berufung wirklich an ein Müssen, weil mir die Verantwortung dafür zu groß ist. Ich möchte aber auch sagen; dem Erwachsenen, der sich überhaupt traut, so eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, muss viel mehr Wertschätzung allein dafür entgegengebracht werden. Und es muss leichter werden dürfen, sich echt zu zeigen. Mensch sein zu dürfen, heilen zu dürfen. Nur eben nicht an den Kindern. Verstehst du, was ich meine?

Darum möchte aufrichtig dazu einladen, bestimmten Fragen in deinem Lehrerkollegium oder pädagogischen Team Raum und Zeit zu geben. Sich unter anderem zu fragen…

Wie sprichst du es an, wenn du Gewalt im weitesten Sinne siehst, die von einem Kollegen oder einer Kollegin ausgeht? Wenn sie in der Klasse brüllen oder Kinder grob an den Armen fassen, um sie irgendwo “hinzubugsieren”?

Traust du dich, da hinzuschauen?

Traust du dich, es anzusprechen? 

Was ist für euch als Team eigentlich “Gewalt”? Habt ihr einen gemeinsamen Begriff davon?

Was können wir tun, wenn wir KollegInnen sehen, die in Not geraten und die Kinder mit?

Jetzt oder mit ein wenig zeitlichem Abstand?

Viele PädagogInnen/Schulen haben tolle Konzepte, wie sie Gewaltfreiheit unter Kindern fördern wollen. Innerhalb von Regelwochen, mit Arbeitsblättern, unter Androhung von Gewalt, unter Zuhilfenahme von tools, die vielleicht für sich Gewalt begünstigen… Ja… (als Kind hat mich ein satirischer Cartoon nachhaltig geprägt: Ein Bild, auf dem ein Erwachsener das Kind von oben herab anbrüllt, es solle nicht so brüllen….) Oder aber es gibt “den gemeinsame Strang”, an dem das Kind festgebunden scheint, und an dem wir es in unsere (gewünschte) Richtung ziehen. (Freche Frage… kann ein Kind durch diesen gemeinsamen Strang eigentlich auch stranguliert werden?) 

Ich glaube, dass das weniger sein müsste, wenn Teams und Kollegien auch unter sich vereinbaren, wie sie ihren Alltag und ihre Herausforderungen möglichst gewaltfrei und gleichwürdig schaffen möchten. Und wie sie es schaffen können, selbst gesehen zu werden, ohne in für alle Beteiligten demütigende Konflikte zu geraten. Augenhöhe… das soll nicht bedeuten, dass mein innerer sechsjähriger den Konflikt mit einer Viertklässlerin mit all seinen aufgestauten Kränkungen von früher klärt. 😊

Ich möchte sagen, ich bin kein Engel und es passiert mir, dass ich die Stimme erhebe oder dass ich Grenzen überschreite. Und dann hat mir geholfen und hilft mir noch, wenn ich schauen darf, ob ich etwas brauche, um das zu können, was gerade von mir erwartet wird. Und dass es ok ist manchmal nicht zu können, weil zunächst andere Dinge auch in uns genährt werden müssen. Oder weil du  etwas vielleicht einfach so auch nicht kannst. Du bist ein Mensch und kein Superheld. (Auch wenn die Kinder dich oft genug so sehen 😉 ❤)

Für jetzt wünsche ich dir aufrichtig viel Kraft, es ist eine verrückte Zeit. Verrückt im wahrsten Sinne, weil es viele Dinge auch für dich ver-rückt. Auch du weißt gerade nicht, wie es in zwei Wochen für dich aussehen wird, welchen andauernden Änderungen deines Arbeitslebens auch du ausgesetzt bist. Viele schreiben dir zu, das alles sei Luxus und du hast es noch zu gut. Aber ich weiß, dass das einfach nicht so ist. Und manchmal hast du gerade vielleicht auch berechtigterweise einfach Angst vor einer für dich realen Bedrohung. Zu allen Ängsten, die ohnehin in Schulen wohnen, ist jetzt noch eine weitere hinzugekommen, so groß und für alle relevant, dass sie anderem plötzlich kaum noch Raum lässt.

Falls du Raum und Entlastung brauchst und du bist allein…. vertrau dich jemandem an, nutze die Community und sei gut zu dir.  ❤

AndersArtig-Flo

Admin - 10:01:28 | Kommentar hinzufügen